An einer großen Wirthstafel traf
ich beynah sämmtliche Gesandtschaftsuntergeordnete, junge muntere
Leute, beysammen; sie nahmen mich freundlich
auf, und es blieb mir schon den ersten Tag kein Geheimniß, daß
sie ihr mittägiges Beysammenseyn durch eine romantische Fiction erheitert
hatten. Sie stellten nämlich, mit Geist und Munterkeit, eine Rittertafel
vor. Obenan saß der Heermeister, zur Seite desselben der Kanzler,
sodann die wichtigsten Staatsbeamten; nun folgten die Ritter, nach ihrer
Anciennetät; Fremde hingegen die zusprachen, mußten mit den
untersten Plätzen vorlieb nehmen, und für sie war das Gespräch
meist unverständlich, weil sich in der Gesellschaft die Sprache, außer
den Ritterausdrücken, noch mit manchen Anspielungen bereichert hatte.
Einem Jeden war ein Rittername zugelegt, mit einem Beyworte. Mich nannten
sie Goetz von Berlichingen, den Redlichen. Jenen verdiente ich mir durch
meine Aufmerksamkeit für den biedern deutschen Altvater, und diesen
durch die aufrichtige Neigung und Ergebenheit gegen die vorzüglichen
Männer die ich kennen lernte. Dem Grafen von Kielmannsegg bin ich
bey diesem Aufenthalt vielen Dank schuldig geworden. Er war der ernsteste
von allen, höchst tüchtig und zuverlässig. Von Goué,
ein schwer zu entziffernder und zu beschreibender Mann, eine derbe, breite,
hannovrische Figur, still in sich gekehrt. Es fehlte ihm nicht an Talenten
mancher Art. Man hegte von ihm die Vermuthung, daß er ein natürlicher
Sohn sey; auch liebte er ein gewisses geheimnißvolles Wesen, und
verbarg seine eigensten Wünsche und Vorsätze unter mancherley
Seltsamkeiten, wie er denn die eigentliche Seele des wunderlichen Ritterbundes
war, ohne daß er nach der Stelle des Heermeisters gestrebt hätte.
...
Ob
ich nun gleich zu solchen Possen sehr gern beyrieth, ... so hatte ich mich
doch schon früher an solchen Dingen müde getrieben, und als ich
daher meine Frankfurter und Darmstädter Umgebung vermißte, war
es mir höchst lieb, Gottern gefunden zu haben, der sich mit aufrichtiger
Neigung an mich schloß, und dem ich ein herzliches Wohlwollen erwiederte.
Sein Sinn war zart, klar und heiter, sein Talent geübt und geregelt;
er befleißigte sich der französischen Eleganz und freute sich
des Theils der englischen Literatur, der sich mit sittlichen und angenehmen
Gegenständen beschäftigt. Wir brachten viele vergnügte Stunden
zusammen zu, in denen wir uns wechselseitig unsere Kenntnisse, Vorsätze
und Neigungen mittheilten. Er regte mich zu manchen kleinen Arbeiten an,
zumal da er, mit den Göttingern in Verhältniß stehend,
für Boie's Almanach auch von meinen Gedichten etwas verlangte.
"Boie's
Almanach" - das waren die jährlich erscheinenden Musenalmanache, die
Heinrich Christian Boie und Friedrich Wilhelm Gotter seit 1769/70 herausgaben:
Die Bühne, auf der in diesen Jahren fast eine ganze Dichtergeneration
ihren ersten Auftritt hatte, vor allem die Göttinger 'Hainbündler'
Ludwig Christian Heinrich Hölty, Johann Martin Miller, Johann Heinrich
Voß, die Grafen Friedrich und Christian zu Stolberg u. a. Im
Musenalmanach für 1774 (erschienen im Herbst 1773) und in Matthias
Claudius' "Wandsbecker Boten" von 1773 erschienen die ersten veröffentlichten
Gedichte Goethes.